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Protest gegen Erdogan geht weiter – Türkei-Experte: „Deutschland setzt auf ihn“

Die Proteste in der Türkei gegen Staatspräsident Erdogan gehen weiter. Experte Burak Yilmaz geht vor allem mit Deutschland hart ins Gericht.

Erdogan
© IMAGO/SOPA Images

Erdogan: Das ist der Machthaber der Türkei

Recep Tayyip Erdogan ist langjähriger Machthaber in der Türkei. Wir stellen den türkischen Präsidenten vor.

Sie lassen sich nicht einschüchtern! Nach der Verhaftung von Erdogan-Rivale Ekrem Imamoglu (53) am 19. März gehen in der Türkei tagtäglich Zehntausende auf die Straßen. Sie fordern die sofortige Freilassung des beliebten Oberbürgermeisters von Istanbul, der 2028 für die Abwahl von Langzeit-Präsident Recep Tayyip Erdogan (71) in der Türkei sorgen sollte. Imamoglu, Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP, werden Korruption und Führen einer kriminellen Organisation vorgeworfen.

Kritiker sind sich sicher: Die Vorwürfe der vermeintlich neutralen Justiz sind konstruiert, um Erdogans Macht weiter zu sichern. Trotz massiver Polizeipräsenz, des Einsatzes von Wasserwerfern und Tränengas und Demonstrationsverbote, gehen vor allem junge Menschen auf die Straße, wollen das Ende des Erdogan-Regimes.

Anti-Erdogan-Proteste gehen weiter

Diese Redaktion hat mit Türkei-Experte und Buchautor Burak Yilmaz gesprochen. Der Duisburger kennt die Geschehnisse im Land am Bosporus aus dem Effeff, gilt als Fachmann in migrationspolitischen Themen – und geht auch mit der deutschen Türkei-Politik hart ins Gericht!

REDAKTION: Herr Yilmaz, Ekrem Imamoglu bleibt in Haft, er wurde vom Staat enteignet, gleichzeitig wurde das Demonstrationsverbot weiter ausgeweitet. Ist Erdogan mehr denn je Alleinherrscher in der Türkei?

Burak Yilmaz: Wir erleben gerade eine Zuspitzung der politischen Lage in der Türkei. Das, was dort gerade passiert, ist eine Sache, die die ganze Bevölkerung bewegt. Die Inhaftierung von Imamoglu ist keine kleine Sache. Es wurde einer der größten Oppositionsführer in Haft genommen. Da muss man immer aufhorchen, wenn man von „Demokratie“ spricht.

Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass Politiker auch von pro-kurdischen Parteien verhaftet wurden. Warum ist es jetzt noch brisanter, wenn Imamoglu verhaftet wird?

Yilmaz: Wenn man sich die letzten Umfragen ansieht, liegt Imamoglu oft sogar noch vor Erdogan. Da fürchtet jemand also um seine Macht. Natürlich hatten wir auch im Osten des Landes, dass Bürgermeister ausgetauscht und Zwangsverwaltungen eingesetzt wurden. Ich habe das Gefühl, dass die Mehrheitsgesellschaft in der Türkei begriffen hat: ‚Oh, das kann sich auch gegen uns richten!‘ Diese Entwicklungen gab und gibt es auch schon länger in den östlichen Gebieten des Landes. Die Dynamik jetzt kann sich aber nochmal zuspitzen und die türkische Gesellschaft noch weiter spalten.

Junge Menschen flüchten aus der Türkei

Die Bilder der Demonstrationen haben es in sich, in den großen Städten, vor allem in Istanbul, wo Imamoglu regiert, sind Zehntausende Menschen auf den Straßen. Viele junge Menschen ziehen mit. Keimt eine neue Protestkultur in der Türkei auf?

Yilmaz: Allein bei der letzten Kundgebung waren etwa 1,5 Millionen vor Ort in Istanbul, was eine gewaltige Zahl ist. Gerade die jungen Menschen haben Angst um ihre Zukunft. Man darf nicht vergessen, dass sehr viele Türken nach Deutschland fliehen. Das hat mit den Strukturen zu tun, die schon seit längerer Zeit in der Türkei herrschen. Es wird sich in den nächsten Tagen zeigen, ob daraus eine neue Protestkultur entsteht. Und es wird sich zeigen, ob dieser Protest nachhaltig ist oder Wirksamkeit zeigen kann, wenn noch mehr Menschen auf die Straßen gehen.

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Türkei-Experte und Buchautor Burak Yilmaz aus Duisburg. Foto: Gerd Wallhorn/ FUNKE Fotoservices

Welche Unterschiede sehen Sie zum Gezi-Protest von 2013?

Yilmaz: Der Gezi-Protest wurde international bekannt, mit sehr ikonischen Bildern und heftigen Demonstrationen. Damals war die Macht von Erdogan aber noch nicht so gefestigt wie heute. Heute kann er Beschlüsse und Gesetze stoppen oder eben forcieren – das geht deutlich schneller als noch 2013.

Der türkische Exil-Journalist Can Dündar aus Berlin ist der Meinung, dass im Gegensatz zu Gezi heute die größte Oppositionspartei die Proteste anführt und organisiert. Haben die jetzigen Proteste „viel mehr Kopf“ als damals?

Yilmaz: Bezeichnend für Gezi war, dass die Proteste damals zivilgesellschaftlich geprägt waren. Das waren Leute von unten, die die Demonstrationen auf die Straßen getragen haben. Eine parteiliche Solidarität gab es zwar auch, aber nicht im Sinne, dass man die Proteste jetzt anführe. Das könnte dieses Mal wirklich anders sein. Heute ist eine andere Struktur da, vor allem, wenn man sich die Menschenmengen ansieht, die gegen Erdogan demonstrieren. Die entscheidende Frage ist: Wofür wird eigentlich protestiert? Und für wen wird protestiert? Demonstriert man für die eigene politische Gruppe, also Kemalisten und Laizisten? Oder ist es ein Protest, der wirklich die Vielfalt der Türkei beachtet? Redet man auch darüber, wie es den Minderheiten dort geht?

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Die Proteste gegen Erdogan gehen in der Türkei weiter. Foto: IMAGO/SOPA Images

„Deutschland setzt sehr stark auf Erdogan“

Wieso hat Erdogan es eigentlich nötig, seine Rivalen wegzusperren, wenn er doch so mächtig und gefestigt wirkt?

Yilmaz: Ekrem Imamoglu zieht die Menschen an wie ein Magnet. Er ist ein ernstzunehmender Konkurrent, der rhetorisch gut ist, der die Massen mobilisieren und der auch seine Inhalte gut platzieren kann. Er wurde von seiner Partei zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Ausgerechnet dann reinzugrätschen – da sollte jeder selbst seine Schlüsse ziehen können.


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Wie bewerten Sie die Reaktionen der deutschen Politik?

Yilmaz: Ich weiß nicht, ob es eine ernste Kritik gibt. Wenn man sich anschaut, was von der Bundesregierung kam, dann sind das nicht mehr als rhetorische ‚Verurteilungen‘. Ich habe auch keine Hoffnung, dass da noch was Großes kommen wird. Die Bundesregierung setzt in Bezug auf die Geflüchteten sehr stark auf Erdogan. Gerade jetzt, während der instabilen Lage in Syrien, baut man auf eine Türkei, auf die man sich ‚verlassen‘ kann. Deutschland hat mit den Geflüchteten-Deals Milliarden Euro an die Erdogan-Regierung gesendet. Es passt also auch Europa in den Kram, dass Erdogan an der Macht ist, weil man denkt, er halte die Flüchtlinge fern.